Es gibt eine Sache, die mich jahrzehntelang unfassbar viel Energie gekostet hat, ohne dass ich es wirklich bemerkt habe: Augenkontakt. Ich meine kein harmloses "Ich mag Blickkontakt nicht so gern." Für mich fühlt sich Augenkontakt oft an, als würde mir jemand ohne Vorwarnung sehr nahe kommen, als würde sich das Gesicht meines Gegenübers plötzlich um meinen Kopf schmiegen – intim, invasiv und verwirrend zugleich.
In solchen Momenten ist klares Denken kaum noch möglich. Ich weiß genau, wie von mir erwartet wird zu reagieren: höflich, interessiert und präsent. Empathie zeigen, lächeln, Gesten des Gegenübers spiegeln. Ich kann diesen Eindruck auch problemlos erzeugen, wenn es im beruflichen Kontext nötig ist. Am besten geht es, wenn es eine klare Zielrichtung für das Gespräch gibt und ich eine gewisse Routine mit den Gesprächsbausteinen habe. Schwieriger wird es, wenn es tatsächlich um etwas geht. Wenn ich verhandeln muss, oder Gedanken neu formulieren. Dann ertappte ich mich oft beim an-die Wand-starren - oder wurde von anderen dabei ertappt - was meinen Mann häufig dazu veranlasste, irritiert zu fragen, was es denn da zu gucken gäbe und warum ich ihn nicht anschaute, wenn ich mit ihm spreche.
Also bemühte ich mich, zu gucken. Jahrzehntelang. Dummerweise passiert beim In- die-Augen-Gucken eine komplette Verschiebung in meiner Aufmerksamkeit. Statt Gedanken zu formulieren, versuche ich verzweifelt, die sensorische Überforderung zu regulieren. Wie würde es dir gehen, wenn dich das Gesicht des Gegenübers plötzlich anspringt und sich um deinen Kopf wickelt? Mir geht dabei in der Regel das verloren, was ich eigentlich sagen wollte. Nach außen wirke ich dann entweder sehr ruhig (weil ich nichts mehr sage), oder zumindest ein wenig langsamer im Denken, als ich eigentlich bin. In Auseinandersetzungen kann ich mit Augenkontakt prima meine gesamte Fähigkeit lahmlegen, Standpunkte zu formulieren und meine Meinung zu sagen.
Die autistische Youtuberin Megan Foley beschreibt die Erfahrung von Masking in Gesprächen - wozu auch Augenkontakt gehört - sehr treffend im folgenden Kurzvideo:
Die stille Last des Anpassens
Den größten Teil meines Lebens habe ich versucht, mich anzupassen. Natürlich – so macht man das doch: Blickkontakt halten, wenn jemand spricht. "Sei nicht so verschlossen", "hör zu", "zeig Interesse." Genau wie es erwartet wurde, habe ich es getan, immer wieder. Ich habe Augenkontakt gehalten, auch wenn ich mich am liebsten abgewendet hätte. Und auch dann noch, wenn mein ganzer Körper schrie: "Zu viel, zu nah, zu schnell." Das Tragische daran: Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich mich überfordere - weil ich es nicht anders kannte. Die ganzen Ratgeber für soziale Interaktion, die ich verschlang, machten es nicht besser - von "Guten ersten Eindrücken" bis zu "Erfolgreich auftreten im Job" war Augenkontakt immer vertreten.
Erst als ich begann, meinen Stresslevel mit dem Fitness Tracker zu messen, fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Meine damalige Therapie startete ich mit dem Wunsch, die Kapazität meiner sozialen Batterie zu vergrößern. Denn in und nach jedem Gespräch klebte mein Stresslevel auf Anschlag, und nicht selten schloss ich mich auf dem Klo ein, um mich kurz zu regulieren. Ich wusste damals nichts von meinen autistischen Zügen. Sie wurden erst im weiteren Verlauf unübersehbar.
Seither hat sich mein Guckmuster geändert. Ich zwinge mich seltener zu Augenkontakt - und als ich anfing, ihn bewusst zu hinterfragen und dann langsam zu reduzieren, fiel auf, wie viele Fähigkeiten er mir regelmäßig geklaut hatte. Fähigkeiten, die ich eigentlich besaß, die aber keinen Raum bekommen hatten, weil mein Gehirn mit In-die Augen-Schauen-und-den-überwältigenden-Input-Verarbeiten beschäftigt war.
Plötzlich gibt es in persönlichen Gesprächen mehr Klarheit und mehr Schlagfertigkeit. Ich bin in Gesprächen seltener blockiert.
Plötzlich kann ich Gedanken zu Ende denken, Sätze formulieren, die mir früher erst drei Stunden später eingefallen wären, und humorvoll kontern, ohne mich dabei selbst zu verlieren.
Wenn Augenkontakt uns klein macht
Augenkontakt - oder das Verzichten darauf - ist für Autist*innen keine simple Vorliebe. Es geht um Ressourcen. Augenkontakt hält mein Gehirn so sehr auf Trab, dass andere Prozesse heruntergefahren werden: Sprache, Impulskontrolle, Schlagfertigkeit, Selbstbewusstsein. Die Konsequenz im Alltag ist verheerend. Ich - und mit mir viele andere - werden als weniger kompetent wahrgenommen, als sie eigentlich sind – als still, unsicher, langsam. Und warum? Weil wir uns auf eine Norm konzentrieren müssen, die nicht für uns gemacht ist.
Das ist eine strukturelle Ungerechtigkeit, die zu einer Abwärtsspirale führt: Wer sich immer wieder als "unterlegen" erlebt, wer merkt, dass er nicht gehört, nicht ernst genommen, nicht gesehen wird, geht in den nächsten sozialen Kontakt mit weniger Selbstvertrauen hinein. Mit mehr Cortisol im Blut und weniger Spielraum für Authentizität. Genau das macht auf Dauer krank.
Statt Augenkontakt: Was wir Kindern (und uns selbst) wirklich beibringen sollten
Die Dynamik des Anpassens beginnt erschreckend früh. In der Schule, im Kindergarten, und zu Hause hören Kinder: "Schau mich an, wenn ich mit dir spreche."
Was als Höflichkeit empfunden wird, ist für viele neurodivergente Kinder eine Grenzverletzung. Schlimmer noch: Sie lernen da im Kleinen, ihre eigenen körperlichen Signale zu ignorieren, zu funktionieren und sich anzupassen – auch wenn es weh tut.
Später wundern wir uns dann, dass diese Kinder keine klaren Grenzen setzen können, nicht spüren, was ihnen guttut, und nicht wissen, wie sie sich abgrenzen sollen. Aber wie sollen sie das können, wenn wir ihnen jahrelang beigebracht haben, dass das eigene Unbehagen nichts zählt?
Neuro-Respekt heißt: Nicht schauen müssen
Für mich ist das Thema Augenkontakt mittlerweile ein Schlüsselbeispiel für das, was ich Neuro-Respekt nenne: Anerkennen, dass Menschen unterschiedlich ticken und dass diese Unterschiede Konsequenzen haben. Ein Mensch, der beim Sprechen auf den Boden schaut, kann genauso interessiert sein wie jemand mit offenem Blick. Jemand, der in die Ferne starrt, hört vielleicht gerade besser zu als jemand mit perfekt "sozialem" Verhalten. Und das ist nicht nur okay – das gehört geschützt.
Wenn du bis hierhin gelesen hast, hast du vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht oder ganz andere. Aber vielleicht ist dieser Text ein kleiner Impuls, mal hinzuspüren: Was kostet dich eigentlich wie viel Energie – und für wen? Du darfst auf dich hören. Besonders im privaten darfst du weniger schauen - und dafür mehr sagen.