
Autismus Kultur

Neurodive Lexikon
Autismus Kultur bezeichnet die Werte, Verhaltensweisen, Kommunikationsformen und sozialen Strukturen, die autistischen Menschen Sicherheit geben und sinnvolle Interaktion ermöglichen. Damit kann man die autistische Community als kulturelle Gemeinschaft charakterisieren. Gleichzeitig versteht man besser, welche der üblichen kulturellen Prägungen für Autist*innen schwer zu verstehen und umzusetzen sind.
Wenn wir über Autismus Kultur oder autistische Kultur reden, erkennen wir, dass man Autismus nicht nur als neurologische Verschiedenheit verstehen kann, sondern auch als Kultur mit eigenen Normen und Werten.
Kultur bezeichnet dabei ein System von Modellen oder Wissen, wie die Welt funktioniert. Eine Konstruktion von Realität, die geschaffen, geteilt und ausgeführt wird, von Mitgliedern einer Gesellschaft.
In diesem Sinne bildet die autistische Gemeinschaft eine eigene Kultur mit spezifischen Charakteristika, die sich deutlich von der neurotypischen Mehrheitskultur unterscheidet.
Die autistische Diaspora-Erfahrung
Autistische Menschen wachsen häufig isoliert in neurotypisch geprägten Umgebungen auf, weit verstreut über Kontinente und Kulturen hinweg.
Viele erleben ein Stück weit das Gefühl von Exil und Isolation – bis sie in Online- oder Live-Gruppen auf Gleichgesinnte stoßen. Diese Begegnungen fühlen sich für viele wie die Rückkehr zu einer eigenen kulturellen Identität an.
Masking und Camouflaging, also die Anpassung ans „normale“ Umfeld, ist in einer neurotypisch geprägten Gesellschaft eine wichtige Überlebensstrategie - aber auch unglaublich anstrengend. Gleichzeitig wächst bei Autist*innen der Wunsch nach Authentizität, Gesehen-Werden und Selbstermächtigung.
Es gibt einen krassen Gegensatz zwischen der medizinischen Sichtweise auf Autismus als "Störung" und der kulturellen Selbstwahrnehmung als eigenständige Gemeinschaft. In diesem Spannungsfeld erforschen Autist*innen neue Wege, uns selbst zu verstehen und zu definieren.
In The Autistic Culture Podcast gehen Angela Kingdon und Matt Lowry spielerisch den autistischen Merkmalen von Kunst oder kulturellen Phänomenen auf den Grund.
In der Folge Dimensions of Autistic Culture widmen sie sich der Frage, welche Merkmale eine autistisch geprägte Gesellschaft hätte. Dabei nutzen sie die 6 Dimensionen von Kultur nach Hofstede - ein super spannendes Konzept, wie ich finde. Daher möchte ich es gern aufgreifen. Stellen wir uns also die Frage: Wie sähe unsere Kultur aus, wenn der autistische Neurotyp in der Mehrheit wäre?
Autismus und die 6 kulturellen Dimensionen nach Hofstede
Geert Hofstedes kulturelle Dimensionen entstanden aus einer der umfangreichsten empirischen Studien zur Arbeitsplatzkultur zwischen 1967 und 1973. Die ursprünglichen 4 Dimensionen wurden später auf 6 erweitert, um auch Kulturen jenseits der westlich geprägten abbilden zu können. Die Dimensionen revolutionierten das Verständnis kultureller Unterschiede in der Ppsychologie und im Management - auch wenn sie komplexe kulturelle Realitäten stark vereinfachen.
2. Machtdistanz
... beschreibt die Akzeptanz von Hierarchien und ungleicher Machtverteilung in der Gesellschaft.
Da Autist*innen soziale Konstrukte wie Machtdifferenzen eher schwierig zu entschlüsseln finden, kann man von einer deutlich egalitären Grundstimmung in autistisch geprägten Kulturen ausgehen. Hohe Egalität und Werte wie gleiche moralische Würde stehen im Zentrum. Autoritätspersonen werden kritisch betrachtet, nicht automatisch verehrt.
Die bei Autist*innen überdurchschnittlich häufig vorkommende sogenannte PDA (Pathological Demand Avoidance), bei Anforderungen pribzipiell hinterfragt oder abgelehnt werden, könnte man als Ausdruck dieser egalitären Haltung diskutieren.
2. Individualismus vs. Kollektivismus
Verallgemeinert gesprochen, betonen westlich geprägte Kulturen die Freiheit des Individuums, während andere Traditionen zum Kollektivismus neigen, also das Wohl der Gemeinschaft über das Schicksal des Einzelnen stellen.
Hier wäre eine autistisch geprägte Kultur wohl in der Mitte des Spektrums anzusiedeln. In autistischen Gruppen zeigt sich ein paradoxes Gleichgewicht: Es gibt ein starkes Gemeinschaftsgefühl und einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, selbst wenn man selbst davon Nachteile hat*. Zugleich besteht ein tief verankerter Wunsch nach Rückzug und Alleinzeit zur individuellen Regulierung - und das Bedürfnis, individuellen Spezialinteressen folgen zu können. Autistische Kultur feiert somit beides: das Ich und das Wir.
3. Unsicherheitsvermeidung
... betrifft die Toleranz einer Gesellschaft gegenüber Mehrdeutigkeit und unstrukturierten Situationen.
Hier schwingt der Zeiger autistischer Kultur mit Sicherheit zur Sicherheit .
Eine autistisch geprägte Gemeinschaft würde Sicherheit durch Struktur vermitteln: Klare Regeln, Routine und Vorhersagbarkeit als Grundpfeiler der Gesellschaft. Autismus geht mit einem starken Bedürfnis nach klaren Regeln und Strukturen einher. Wenn Regeln geändert werden müssen, dann nach transparenten, vereinbarten Verfahren. Unsicherheit führt bei Autist*innen zu Stress und den Verhaltensweisen, die oft pathologisiert werden. Überraschungparties oder -besuche würden in einer autistisch geprägten Kultur sicher nicht zum guten Ton gehören...
4. Männlein-Weiblein-Rollenbilder <-> Gender-Egalitarismus
Hier steht in den ursprünglichen Dimensionen von Hofstede "Maskulinität vs. Femininität". Gemeint ist die Dominanz von Wettbewerb, Leistung und Erfolg vs. Kooperation, Bescheidenheit und Lebensqualität. Im Prinzip also eher ein abstrahiertes Yin-Yang-Konzept: Prägt das männliche Prinzip (Yang) mit seinem Wettbewerbsdenken die betreffende Gesellschaft, oder richten sich die Werte am sogenannten weiblichen Prinzip (Yin) aus, welches "Kooperation, Bescheidenheit und Lebensqualität" verkörpert? In diesem Kontext sind die westlichen Kulturen traditionell den sog. maskulinen Werten verpflichtet. Die Autismus Kultur wäre wesentlich "femininer" und weniger wettbewerbsorientiert. Meiner Meinung nach gibt es einen starken Overlap zu Prinzip 2 (Individualismus korelliert mit Wettbewerb /"maskulin"; Kollektivismus korrelliert mit Kooperation und Bescheidenheit/ "feminin").
Eine andere Betrachtungsweise ist: Gibt es in der betreffenden Gesellschaft einen großen Unterschied zwischen den genderspezifischen Rollenbildern (Mann/Frau)?
Hier ist die autistische Kultur ziemlich gender-egalitär. Queere Identitäten sind in der autistischen Community überdurchschnittlich häufig. Schon allein deshalb, aber auch wegen des ausgeprägten Gerechtigkeitsbedürfnisses, sind geschlechtsspezifische Rollen in einer Autismus Kultur unwahrscheinlich. Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen sollte selbstverständlich sein, genderspezifische Stereotypen und Erwartungen hingegen ein Unding - genau wie Unterschieden in Pflege und Support.
Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, die Folgen fehlender Diagnosen zu bedenken:Autist*innen, die lange ohne Diagnose leben, sind oft besonders stark im sozialen Maskieren – und damit auch in der Übernahme gesellschaftlicher Rollenerwartungen. Wenn das eigene Selbstverständnis jahrelang auf Anpassung beruht, kann es passieren, dass stereotype Geschlechterbilder unreflektiert übernommen werden – nicht aus Überzeugung, sondern weil sie Orientierung in einer ohnehin überfordernden sozialen Welt bieten. Die klar strukturierte Vorstellung von „Mann“ und „Frau“ erscheint in diesem Kontext u.U. einfacher verständlich als ein komplexes, fluides Genderkonzept. So kann ausgerechnet die Anpassungsleistung, die durch fehlende Diagnose notwendig wurde, in Widerspruch zu den egalitären Werten stehen, die sich in diagnostizierten, selbstbestimmten autistischen Communities entwickeln.
Zeitliche Orientierung: kurzfristig <-> langfristig
Autismus geht einher mit sensorischen Problemen (Sensory Overload, Fight-or-Flight Modus). In Zuständen der Überreizung muss sofort reagiert werden, um Meltdowns und Shutdowns zu vermeiden. Gleichzeitig gibt es die ausdauernde, langfristige Orientierung bei Spezialinteressen und Projekten - der sogenannte Monotropismus ermöglicht eine intensive, langfristige Fokussierung. Somit ist die zeitliche Ausrichtung autistischer Communities abhängig davon, wie gut autistische Bedürfnisse allgemein unterstützt werden. Je sicherer und reizärmer die Umgebung, desto seltener ist schnelles Reagieren für die Selbstregulation nötig - und desto langfristiger wäre die zeitliche Orientierung.
Nachgiebigkeit <-> Beherrschung (Indulgence vs. Restraint)
Stimming, sensorisches Wohlbefinden, Freude am Monothematischen – all das ist unabdingbar verankert in einer autistisch geprägten Kultur. In unserer aktuellen Kultur, die Selbstbeherrschung als elementares Merkmal des Erwachsenwerdens ansieht, haben Menschen mit einem schwer regulierbaren, extrem reizoffenen Nervensystem ein Problem. Nicht umsonst geht die Anpassung an eine Restraint-Kultur für maskierende Autist*innen oft damit einher, die eigenen Grenzen systematisch zu negieren und auszulöschen. Eine autistisch geprägte Kultur würden das Aushalten von Schmerz tendenziell nicht als Charakterstärkung interpretieren, und Sprüche wie „Nur die Harten kommen in Garten“ oder "No Pain, No Gain" würden der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig müssten Komfort und überbordende Freude nicht versteckt, sondern könnten transparent gelebt werden. Ohne abwertende Urteile wie "kindisches Verhalten" zu provozieren.
Kommunikation und Interaktion in autistischen Gemeinschaften
Der Kommunikationsstil einer Autismus Kultur?
Direkt, sachlich, ehrlich – und inhaltlich fokussiert. Höflichkeitslügen, Smalltalk oder Statussignale würden kaum bewusst eingesetzt und auch nicht als normal, sondern als irritierend empfunden werden. Der Wert läge mehr im klaren Austausch, als im „verbindenden“ Ritual. Folgenden Phänomene haben eine große Bedeutung:
1. Augenkontakt & Körpersprache
Oft werden in autistischen Communities alternative Formen der Aufmerksamkeit genutzt – Blick senken oder schweigend nebeneinandersitzen ist kein Zeichen von Desinteresse. Stimming (z. B. Handbewegungen, Beinwippen) ist ein Teil der nonverbalen Kommunikation und hilft bei der Selbstregulation. Auch der körperliche Abstand ist individuell und kann klar angesprochen und benannt werden – der eine spürt Nähe, der andere braucht Raum.
2. Parallel Play
Gemeinsames Alleinsein – in derselben Umgebung, aber in verschiedenen Welten - ist für viele Autist*innen eine sehr angenehme Erfahrung. Zeichnen, lesen oder programmieren - nebeneinander und trotzdem verbunden. Diese Form des Miteinanders wirkt verbindend, ohne soziale Überstimulation.
3. Co-Regulation
Emotionale Synchronität entsteht oft ohne explizite Interaktion: ein gemeinsames Lachen, Mitschwingen, ein tiefes Gefühl der Entlastung, das entsteht, wenn autistische Menschen sich gegenseitig begegnen.
4. Soziale Gerechtigkeit
Autistische Menschen sind überdurchschnittlich engagiert bei Themen wie Barrierefreiheit, Aggression gegen Benachteiligte oder mehr Autonomie. Die Kultur fördert ein ausgeprägtes Bewusstsein für systemische Ungerechtigkeit – auf individueller und gesellschaftlicher Ebene.
Spezialinteressen:
Diese Themen sind mehr als Hobbys – sie bauen Verbindung, Wissen und Identität. Sie sind Teil der Kultur, werden geteilt, diskutiert, gelebt und gefeiert.
5. Authentizität vs. Masking
Masking ist anerkannt als Schutzmechanismus. Doch viele suchen Räume, in denen Unmasking möglich ist – ohne Angst vor Konsequenzen. Die Kultur feiert authentisches Anderssein.
Herausforderungen und Konflikte
Double Empathy Problem
Autistinnen und Neurotypinnen sprechen teils andere Sprachen: Gestik, Tonfall, Timing und Motivation sind unterschiedlich. Das führt häufig zu Missverständnissen - nicht weil jemand falsch kommuniziert, sondern weil kulturelle Logiken auseinanderlaufen. Es entsteht ein ständiger Kulturschock auf allen Seiten.
Pathologisierung vs. Identität
Autismus wird medizinisch als Defizit diagnostiziert - der Leidensdruck ist entscheidend für eine Diagnose.
Die Autismus-Kultur sieht dagegen eine kulturelle Identität – mit Rechten, Werten und Selbstwert. Das Ziel wäre in deisem Sinne das Schaffen kultureller Räume, in denen der Leidensdruck autistischer Personen so gering wie möglich gehalten wird. Der Widerstand gegen Therapiekonzepte zur Umerziehung (z.B. ABA) ist Ausdruck dieses kulturellen Selbstverständnisses.
Auf der anderen Seite sehen stark eingeschränkte Autist*innen sich u.U. schlecht repräsentiert von der Gruppe, die ohne verbale Einschränkungen laut werden kann. Hier ist ständiges Kommunizieren und das Nutzen alternativer Kommunikationsmittel (Bildkarten u.ä.) unabdingbar, um alle Perspektiven einzubeziehen.
Intersektionalität
Bei marginalisierten Gruppen (z. B. People of Color) verstärken sich Diskriminierungen – kulturell, medizinisch und politisch. Autistische Menschen benötigen Schutzräume, vor allem dort, wo Unverständnis zu systemischen Übergriffen beiträgt.
Autistische Kultur ist universell
Sie entsteht überall dort, wo autistische Menschen sich selbst verstehen und nach Gleichgesinnten suchen. Ob in Tokyo oder Tansania – das Bedürfnissen nach Gleichgesinnten, mit ähnlichen Erfahrungen und Bedürfnissen, bleibt. Kulturelle Unterschiede gibt es trotzdem - z. B. ist die Bedeutung von Blickkontakt in Japan anders als in Europa. Mit den 6 Dimensionen kann man die Abweichungen zwischen lokaler Kultur und Autismus Kultur gut erfassen - und damit Herausforderungen verstehen.
Zukunftsperspektiven autistischer Kultur
Glücklicherweise erlebt die Autistische Community ein wachsendes Bewusstsein in der Gesellschaft. Autistische Communities organisieren sich selbst – es entstehen Netzwerke, neue Ideen und Lebensmodelle. Autobiographien verstärken die kollektive Sichtbarkeit. Die Dimensionen von Hofstede können dabei ein ergänzendes Werkzeug sein: Mit ihnen erkennt man gut, wo die Merkmale einer autistisch geprägten Kultur von der jeweils vorherrschenden Kultur abweichen. In diesen Gaps liegen Herausforderungen - hier muss übersetzt werden, und zwar in beide Richtungen.
Was Austauschschüler*innen an Unterstützung in fremden Kulturen erfahren, würde Autist*innen ebenfalls helfen. Wie könnte eine Welt aussehen, in der Kinder in der Schule die "kulturellen" Unterschiede verschiedener Neurotypen erfahren? Welche Coping Strategien für ein besseres Miteinander ließen sich finden?
Forschung
Es besteht weiterhin dringender Bedarf an Forschung, die die Besonderheiten autistischen Erlebens versteht – und nicht nur Abweichungen von der Norm pathologisiert. Autist*innen müssen selbst forschen, und mitbestimmen, wie über sie gesprochen wird.
Weiterführende Ressourcen
- Die deutsche Seite autismus-kultur.de widmet sich der Frage, wie man als Autist*in glücklich leben kann.
- In der Folge Dimensions of Autistic Culture gehen Angela Kingdon und Matt Lowry dem vorgestellten Konzept mit Humor und weiteren Beispielen auf den Grund (auf englisch):
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