Bottom Up Processing

Neurodive Lexikon

Bottom-Up Processing – auf deutsch aufsteigende Verarbeitung – beschreibt, wie das Gehirn Informationen verarbeitet: von den kleinsten sensorischen Reizen hin zu komplexeren Erkenntnissen. 

Das heißt, du nimmst erst jedes winzige Detail wahr – und setzt daraus nach und nach das große Ganze zusammen.
Im Gegensatz dazu steht das sogenannte Top-Down Processing, bei dem vorhandenes Wissen, Erfahrungen oder Erwartungen deine Wahrnehmung beeinflussen.

Während viele neurotypische Menschen stark Top-Down geprägt sind, verarbeiten viele neurodivergente Menschen – etwa Autistinnen oder ADHSlerinnen – Informationen vor allem Bottom-Up. Und das verändert alles: wie du siehst, hörst, fühlst, reagierst und denkst.

Was ist Bottom Up Processing?

Bottom-Up Processing bedeutet: Informationen werden von unten nach oben verarbeitet – also von den einfachsten Sinneseindrücken bis hin zur komplexen Bedeutung.
So läuft der Prozess typischerweise ab:

  1. Sensorische Aufnahme: Deine Sinnesorgane – Augen, Ohren, Haut usw. – nehmen Reize aus deiner Umgebung auf.
  2. Neuronale Übertragung: Diese Reize werden in elektrische Signale umgewandelt und ans Gehirn weitergeleitet.
  3. Primäre Verarbeitung: Im Gehirn werden Grundmerkmale wie Farbe, Form, Bewegung oder Tonfrequenz analysiert.
  4. Mustererkennung: Einzelne Elemente werden zu größeren Zusammenhängen geordnet – z. B. ein Gesicht, ein Geräusch, ein Objekt.
  5. Objekterkennung: Dein Gehirn identifiziert nun, was genau du da gerade siehst oder hörst.
  6. Bedeutungszuweisung: Erst im letzten Schritt bekommt das Wahrgenommene einen Kontext und eine Bedeutung.

Bei Menschen mit verstärktem Bottom-Up Processing bleibt der Fokus oft sehr lange auf den sensorischen Details – bevor das große Ganze überhaupt erkennbar wird.

Neurologische Grundlagen

Bottom-Up Processing findet über neuronale Bahnen statt – je nach Sinneseindruck:

Visueller Kortex: Informationen aus den Augen landen zuerst im visuellen Kortex (V1), wo Linien, Kanten und Bewegungen erkannt werden. Danach geht es weiter in andere Areale, wo komplexere Merkmale wie Farben, Muster und Bewegungsrichtungen verarbeitet werden.

Auditorischer Kortex: Geräusche werden nach Lautstärke, Frequenz und Zeitstruktur sortiert, bevor sie weiter interpretiert werden.

Somatosensorischer Kortex:  Tastsinn, Temperatur und Schmerz werden zuerst nach Intensität und Position eingeordnet.


Dabei arbeiten die beteiligten Hirnareale hierarchisch organisiert: Einfache Neuronen reagieren auf einzelne Reize. Je höher die Verarbeitungsstufe, desto komplexer die Informationen, auf die reagiert wird – zum Beispiel Kombinationen aus Farben und Formen. So entsteht aus einfachen Daten nach und nach ein vollständiges Bild.

Unterschied zu Top-Down Processing

Im Gegensatz zum Bottom-Up Processing funktioniert Top-Down Processing von oben nach unten:
Hier interpretierst du Wahrgenommenes basierend auf Vorwissen, Erfahrungen oder Erwartungen.

Beispiel Bottom-Up:
 Du siehst schwarze Linien auf weißem Papier, dein Gehirn erkennt Formen, daraus Buchstaben, daraus Wörter – und schließlich einen ganzen Satz.
Beispiel Top-Down:
 Du weißt, dass du gerade einen Brief liest. Also ergänzt dein Gehirn unscharfe Wörter automatisch so, wie sie passen könnten – auch wenn sie gar nicht vollständig erkennbar sind.

In der Realität laufen beide Prozesse parallel – aber bei neurodivergenten Menschen ist Bottom-Up Processing oft stärker ausgeprägt oder prägender für das Erleben.

Bedeutung für Neurodivergenz

Autismus und Bottom-Up Processing

Viele autistische Menschen zeigen eine ausgeprägte Bottom-Up-Verarbeitung. Das kann sich z. B. so äußern:

Detailfokus: Du nimmst sehr viele Einzeleindrücke wahr – manchmal so stark, dass das Gesamtbild in den Hintergrund tritt oder erst verzögert wahrgenommen wird. Ebenso brauchst du erst alle Details, um etwas wirklich zu verstehen oder um eine Entscheidung treffen zu können. Willst du zu der Party? kannst du erst beantworten, wenn du weißt, wo genau sie stattfindet, wer alles kommt und was dich im Einzelnen erwartet.

Sensorische Sensitivität: Geräusche, Texturen, Licht – alles kommt ungefiltert und gleichzeitig bei dir an.

Analytisches Denken: Du denkst eher von unten nach oben – also vom Detail zur Struktur, nicht andersherum.

ADHS und Bottom-Up Processing

Bei ADHS ist Bottom-Up Processing oft gleichzeitig verstärkt und gestört:

Hypervigilanz: Alle Reize kommen gleich stark rein. Dein Gehirn versucht, alles gleichzeitig zu verarbeiten.

Schwache Reizfilterung: Es fällt schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.

Impulsivität: Du reagierst schnell – manchmal schneller, als dein Top-Down-System die Situation einordnen und eingreifen kann. (Der sprichwörtliche Rennwagenmotor mit Fahrradbremsen, ein Bild von Edward Hallowell im Buch "ADHS ist kein Makel".)

Praktische Auswirkungen von Bottom Up Processing

Lernen und Bildung

Wenn du stark Bottom-Up geprägt bist, lernst du besser, wenn Inhalte schrittweise aufgebaut werden und mit großem Detailfokus  vermittelt werden. Vorwissen-basiertes Lernen und stark vereinfachte Modelle fallen dir mitunter schwer, dagegen hilft dir visueller oder taktiler Input beim Lernen. Hat Bottom-Up Processing auch eine gute Seite? Na klar: Du siehst Details, die andere übersehen

Arbeitsplatz

Bottom-Up Processing im Job bedeutet oft Stärken wie Genauigkeit, Mustererkennung und strukturiertes Denken
 - aber auch Herausforderungen mit Zeitdruck und schnellen Entscheidungen. Hilfreich sind klare Abläufe, ausreichend Zeit für Einarbeitung und ein verständnisvolles Umfeld.

Soziale Situationen

Durch Bottom-Up Processing brauchst du in sozialen Situationen oft länger, um nonverbale Signale zu verarbeiten. Dabei erfasst du die Körpersprache anderer eher analytisch als intuitiv, und soziale Regeln erschließen sich dir oft erst nach bewusster Beobachtung.

Verarbeitungsstrategien & Bewältigung

Umgang mit sensorischer Überlastung

Wenn Bottom-Up dir oft zu viel wird, kann es helfen, vorbeugend Pausen einlegen – ganz bewusst und regelmäßig. Hilfsmittel wie z. B. Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Sonnenbrillen schützen dich vor sensorischem Overload. Gestalte deine Umgebung reizarm, vorhersagbar und beruhigend.

Stärken nutzen

Verstärktes Bottom-Up Processing bringt einige Stärken mit sich. Idealerweise kannst du sie in deiner Berufswahl nutzen: Die Detailwahrnehmung des Bottom Up Processing eignet sich gut in Jobs mit Qualitätskontrolle oder Analyse, durch Mustererkennung erkennst du früh, wenn „etwas nicht stimmt“. Deine Einschätzung kann auch objektiver sein als die neurotypischer Kolleg*innen , denn du siehst Dinge, wie sie sind – nicht, wie sie „gemeint“ sind.

Kompensationsstrategien

Kompensationsstrategien, um mit Bottom-Up Processing gut zu leben, lassen sich folgenden vier Bereichen zuordnen. Im wesentlichen geht es dabei um sensorisches Filtern, Reizregulation und die passende Strukturierung von Lern- und Arbeitsprozessen.

  • Struktur – wiederkehrende Routinen helfen, Überlastung zu vermeiden
  • Zeitmanagement – Plane mehr Zeit für Reizverarbeitung ein
  • Technik & Tools – z. B. To-Do-Apps, Kalender, Visualisierungen
  • Stimming - hilft beim Stress abbauen, wenn der Input doch einmal zu viel war

Woran man verstärktes Bottom-Up Processing erkennt

Bei dir selbst:

  1. Du nimmst Details extrem deutlich wahr
  2. Kontextwechsel sind anstrengend
  3. Du brauchst Zeit, um Eindrücke einzuordnen
  4. Du analysierst vom Detail hin zum Großen Ganzen

Wie Fachpersonen es einschätzen:

  • Neuropsychologische Tests zur Verarbeitungs- und Reaktionsgeschwindigkeit
  • Tests zur Sinneswahrnehmung
  • Beobachtungen im Alltag oder im Gespräch

Tipps für den Alltag mit Bottom Up Processing


Für dich selbst:

  1. Lerne deine Verarbeitungsweise kennen, beobachte mit Detektivgespür
  2. Achte auf deine ganz persönlichen sensorischen Grenzen
  3. Nutz deine Stärken bewusst
  4. Erlaube dir Unterstützung – du musst es nicht allein schaffen

Für Angehörige & Freunde:

  1. Hab Geduld mit Reizverarbeitung
  2. Frag nach statt zu urteilen
  3. Schätze die besonders detaillierte Wahrnehmung – sie ist keine Schwäche
  4. Vermeide Druck zu schnellen Reaktionen - das geht nach hinten los

Ausblick

Die Forschung zu Bottom-Up Processing und Neurodivergenz entwickelt sich ständig weiter. Von zukünftigen Entwicklungen erhoffe ich mir:

  • Personalisierte Unterstützungstechnologien
  • bessere diagnostische Verfahren
  • neue therapeutische Ansätze
  • gesellschaftliche Anerkennung verschiedener Verarbeitungsstile

Unsere Gesellschaft wird reicher, wenn sie unterschiedliche Denk- und Wahrnehmungsweisen nicht nur toleriert, sondern wertschätzt.
Wer Bottom-Up versteht, kann neurodivergente Stärken besser sehen und fördern - ob in Diagnostik, Schule, Arbeit oder Therapie.

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