Empathie; Autismus und Empathie

Neurodive Lexikon

Empathie beschreibt die Fähigkeit, die Gedanken, Gefühle und Perspektiven anderer Menschen zu verstehen und darauf zu reagieren.

Im Kontext von Neurodiversität wird oft fälschlicherweise behauptet, dass autistische Menschen keine Empathie hätten – dabei zeigt sich Empathie nur unterschiedlich und ist weit komplexer als gemeinhin angenommen.

Die vier Gesichter der Empathie

"Du hast keine Empathie!" – ein Satz, den viele neurodivergente Menschen schon gehört haben. Aber was, wenn das Problem nicht die fehlende Empathie ist, sondern dass wir zu eng denken? Empathie ist nicht schwarz-weiß, sondern ein chaotisches Spektrum mit mindestens vier verschiedenen Ausprägungen.

1. Kognitive Empathie – Das Verstehen

Kognitive Empathie bedeutet, die Perspektive eines anderen Menschen gedanklich nachvollziehen zu können. Sie ist eng mit dem verbunden, was manchmal auch "Theory of Mind" genannt wird – die Fähigkeit zu verstehen, wie andere denken und was sie motiviert.
Für viele neurotypische Menschen ist das die "normale" Empathie. Für viele autistische Menschen ist kognitive Empathie hingegen herausfordernd – nicht aus Mangel an Mitgefühl, sondern weil der gedankliche Perspektivwechsel komplex und anstrengend ist. Als Autist*in kannst du zum Beispiel in einer bestimmten Situation tief empfinden, was andere fühlen, aber vielleicht Schwierigkeiten haben zu verstehen, warum sie es fühlen.

2. Reaktive Empathie – Das Handeln

Diese Form zeigt sich in konkreten Aktionen. Jemand leidet, also tust du etwas: Du hilfst praktisch, spendest, organisierst, tröstest oder hörst zu.
Viele Menschen erwarten genau diese sichtbare Form von Empathie. Aber reaktive Empathie ist nicht automatisch "mehr" oder "bessere" Empathie – sie ist nur anders. Manche Menschen reagieren mit Worten und Umarmungen, andere mit stillen Taten oder gar nicht sichtbar.

3. Affektive Empathie – Das Mitfühlen

Hier wird es intensiv: Affektive Empathie bedeutet, dass du die Gefühle anderer körperlich und emotional in dir spürst. Nicht verstehst. Nicht nachdenkst. Sondern regelrecht fühlst, als wären es deine eigenen Emotionen.
Viele neurodivergente Menschen erleben affektive Empathie so heftig, dass sie nach außen "abschalten" müssen, um nicht zu implodieren. Dann wirken sie distanziert – sind aber innerlich emotional komplett überflutet. Ein Schutzmodus, der oft missverstanden wird. Diese Form beschreibt dr Youtuber Jeremy Andrew Davis sehr anschaulich im unten verlinkten Video (scroll dafür zum Ende des Artikels).

4. Somatische Empathie – Wenn der Körper reagiert

Die unsichtbarste Form: Bei somatischer Empathie reagiert dein Körper auf die Emotionen anderer, bevor dein Bewusstsein überhaupt mitbekommt, was passiert. Der Puls rast, die Atmung verändert sich, du bekommst Bauchschmerzen oder Muskelzucken. Dein Nervensystem geht in Alarm – du merkst nur: "Irgendwas stimmt hier nicht."
Manchmal ist diese körperliche Reaktion so überwältigend, dass das Bewusstsein regelrecht "ausstellt". Der Körper spürt weiter, aber du selbst fühlst dich leer oder abwesend.

Der Mythos der empathielosen Autist*innen

Der Mythos, dass autistische Menschen keine Empathie haben, hält sich hartnäckig – ist aber schlicht falsch. Studien zeigen vielmehr, dass autistische Menschen oft eine andere Empathie-Verteilung haben: Während kognitive Empathie herausfordernder sein kann, ist affektive und somatische Empathie oft überdurchschnittlich stark ausgeprägt.
Das führt zu einem Paradox: Gerade weil autistische Menschen so intensiv mitfühlen, können sie nach außen hin emotionslos wirken. Sie schützen sich vor der Überflutung, indem sie "dichtmachen" – was dann als Empathielosigkeit missdeutet wird.

Empathie bei ADHS

Auch Menschen mit ADHS erleben Empathie oft anders als neurotypische Menschen. Die emotionale Dysregulation, die mit ADHS einhergeht, kann dazu führen, dass empathische Reaktionen sehr intensiv oder auch impulsiv ausfallen. Gleichzeitig kann die Schwierigkeit, aufmerksam zu bleiben, dazu führen, dass subtile emotionale Signale übersehen werden.

Ein neues Verständnis entwickeln

Empathie ist kein Wettbewerb und keine Checkliste für "richtiges Mitfühlen". Jeder Mensch hat ein individuell verdrahtetes Empathie-System. Nur weil jemand nicht die erwarteten tröstenden Worte findet oder keine Umarmung anbietet, heißt das nicht, dass nichts da ist. Vielleicht ist sogar zu viel da – so viel, dass keine Worte mehr durchpassen.


Das nächste Mal, wenn du das Gefühl hast, jemand reagiert "nicht empathisch", frag dich: Welche Art von Empathie erwarte ich eigentlich? Und welche tobt vielleicht gerade still im Hintergrund?

Weiterführende Ressourcen

Der autistische Youtuber Jeremy Andrew Davis zeigt in diesem kurzen YouTube-Video auschaulich, wie Empathie bei autistischen Menschen und das Modell der 4 Typen von Empathie wirklich funktioniert (auf englisch):

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