
Masking

Neurodive Lexikon
Masking, auch Camouflaging genannt, beschreibt das bewusste oder unbewusste Verbergen autistischer oder anderer neurodivergenter Verhaltensweisen – um den Erwartungen der Umgebung zu entsprechen.
Lächeln, obwohl du überfordert bist. Blickkontakt halten, obwohl es dich auslaugt. So tun, als wäre Smalltalk dein Ding.
Als wärst du "ganz normal".
Der Begriff stammt aus der Autismus-Forschung der 2010er-Jahre – aber das Phänomen ist älter. Und unter autistischen und anderen neurodivergenten Menschen weit verbreitet.
Masking ist die Kunst, so zu tun, als wärst du neurotypisch.
Wie Schauspielerei – nur dass du die Rolle 24/7 spielst. So lange, bis du selbst nicht mehr genau weißt, wer du eigentlich bist.
Die Folgen von Masking
Maskieren kostet Kraft. Viel Kraft.
Dauerhaftes Masking kann zu:
- autistischem Burnout
- Depression
- Angststörungen
- und zu Identitätsverlust
führen.
Viele neurodivergente Menschen maskieren über Jahre oder Jahrzehnte – ohne überhaupt zu wissen, dass sie es tun. Es ist so tief verinnerlicht, dass es wie „ich halt“ wirkt. Und - machen das nicht alle so? (Spoiler: nein. Natürlich haben alle eine gewisse professionelle ode anderen Kontexten angepasste Persona - was man auch als Maske bezeichnen könnte. Sich jedoch permanent anzupassen, bewusst statt intuitiv Gesichtsausdrücke auszuwählen, und die eigene Wahnehmung durch massive Filter zu schicken, bevor man sie teilt - das geht über ein übliches und gesundes Maß weit hinaus.) Und genau das macht es so schwer zu erkennen – auch für Diagnostiker*innen.
Wie Masking entsteht
Masking beginnt oft früh – im Kindesalter.
Die Ursache? Wiederholte Ablehnung oder Abwertung.
Kinder merken schnell:
"Wenn ich so bin, wie ich bin, passe ich nicht rein."
"Wenn ich anders wirke, als ich eigentlich bin, bekomme ich weniger Stress."
Also werden soziale Codes imitiert. Bedürfnisse unterdrückt. Mimik angepasst.
Und irgendwann fühlt sich alles an wie die Rolle, die du spielst.
Dabei meinen es Eltern in der Regel nicht böse.
Sie wollen ihr Kind schützen – vor Hänseleien, Missverständnissen, verletzenden Reaktionen.
Also helfen sie beim „richtig Verhalten“, korrigieren Körpersprache, verlangen Blickkontakt, erklären „wie das auf andere wirkt“.
Oft in der Hoffnung, das Kind werde es dadurch leichter haben.
Aber genau das entzieht dem Kind manchmal den einzigen Ort, an dem es echt hätte sein dürfen.
Wenn auch in der eigenen Familie Anpassung nötig ist, bleibt kein sicherer Raum mehr – nirgendwo.
Viele neurodivergente Kinder übernehmen dann früh funktionale Rollen:
Die Unauffällige. Der Logiker. Die Leistungsstarke. Die Vernünftige. Der Außenseiter.
Masking wird zur Überlebensstrategie – lange bevor du überhaupt ahnst, was „neurodivergent“ bedeutet.
Wer maskiert – und wie
Masking betrifft viele neurodivergente Menschen, aber nicht alle gleich.
Frauen, nonbinäre Menschen, nicht-männlich gelesene Personen
- Werden oft als „schüchtern“ oder „sensibel“ gelesen
- Maskieren durch aktives Beobachten, Nachahmen, ständiges Anpassen (Copy-Paste-Verhalten)
- Fallen durch diagnostische Raster, die auf „klassische“ (meist männliche) Autismus-Muster ausgerichtet sind
People of Color
- Müssen zusätzlich rassistische Erwartungen ausbalancieren
- Oft noch weniger Zugang zu Diagnose, Unterstützung und Verständnis
- Und für manche ist Masking kein psychisches, sondern ein physisches Sicherheitsbedürfnis
(Triggerwarnung: Polizeigewalt ) In den USA gab es wiederholt Vorfälle, in denen schwarze autistische Jugendliche von der Polizei niedergeschossen wurden – weil ihr Verhalten missverstanden wurde. Unauffällig zu wirken, kann buchstäblich überlebenswichtig sein - und die Fähigkeit zu Maskieren lebensrettend.
Masking ist in solchen Fällen nicht einfach Anpassung – sondern Selbstschutz in einer Gesellschaft, die auf mehreren Ebenen falsch liest und gefährlich urteilt.
Und was ist mit denen, die nicht maskieren können?
Masking ist anstrengend. Schmerzhaft. Zermürbend.
Aber es ist auch ein Privileg.
Denn nicht jede und jeder kann maskieren.
Manche neurodivergente Menschen – z. B. mit stärkeren Ausprägungen, kognitiven Beeinträchtigungen oder auffälliger Körpersprache – haben keine Möglichkeit, sich „unauffällig“ zu verhalten.
Und das heißt: Sie sind der Welt schutzlos ausgeliefert.
Sie werden offener ausgegrenzt. Häufig pathologisiert. Manchmal institutionalisiert. Und oft auch entmenschlicht.
Während maskierte Autist*innen oft gar nicht als autistisch erkannt werden,
werden unmaskierte Menschen nur noch durch die Brille der Diagnose gesehen – oder missverstanden und abgewertet.
Masking ist also nicht nur eine Schutzstrategie.
Es ist ein Phänomen, das zeigt, wie sehr unsere Gesellschaft neurotypische Normen zur Regel gemacht hat.
Drei Formen von Masking
Masking ist nicht immer bewusst – aber es bedeutet immer einen immensen Kompansationsaufwand, als neurodivergente Person neurotypisch zu wirken.
Hier drei häufige Varianten:
- Kompensatorisches Masking
Du entwickelst Strategien, um Schwierigkeiten aktiv auszugleichen (z. B. auswendig gelernte Gesprächsfloskeln). - Imitatives Masking
Du beobachtest andere - oder Film- und Serienschauspieler – und kopierst deren Verhalten, um „richtig“ zu wirken (Copy-Paste-Verhalten). - Assimilatives Masking
Du versuchst, dich „anzupassen“, bis du nicht mehr auffällst – selbst wenn das bedeutet, deine eigenen Bedürfnisse zu übergehen. Dies kann besonders schädlich sein, da Betroffene selbst auf Nachfrage ihre Bedürfnisse oder Grenzen nicht mehr äußern und sie oft nicht einmal wahrnehmen können. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Mißbrauch zu werden oder in Beziehungen mit unausgewogenen Machtverhältnissen zu geraten.
Späte Diagnosen durch „erfolgreiches“ Masking
Masking kann so „gut“ funktionieren, dass es dich unsichtbar macht.
Du erscheinst funktional, kompetent, kommunikativ – und nur im engsten Kreis rutscht dir die Maske manchmal runter - in emotionalen Zusammenbrüchen, Tagen völliger Erschöpfung oder chronischen Krankheiten durch die permanente innere Anspannung.
Viele erhalten deshalb erst im Erwachsenenalter eine Diagnose. Oder nie.
Masking ist einer der Hauptgründe, warum neurodivergente Menschen so oft übersehen werden.
Unmasking: Wer bin ich eigentlich?
Das Ablegen von Masken ist kein Schalter, den man umlegt.
Unmasking ist ein Prozess.
Ein schmerzhafter, manchmal einsamer – aber auch befreiender Weg:
- zu erkennen, wo du dich verstellt hast
- zu merken - und zu zeigen - wie erschöpft du bist
- zu spüren, was eigentlich du bist – jenseits der Anpassung
Manchmal bleibt am Anfang nur Leere.
Denn wenn du jahrelang jemand anderen gespielt hast, braucht es Zeit, deine echte Stimme wiederzufinden.
Weiterführende Ressourcen
Ein wunderbares Buch, welches Erfahrungsbericht und wissenschaftliche Forschung vereint: Versteckter Autismus von Devon Price (englischer Originaltitel: Unmasking Autism. Ist auch als Hörbuch empfehlenswert.)
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Der autistische Youtuberin Morgan Foley zeigt die vielen inneren Prozesse stark maskierender Menschen (auf englisch):
Der autistische Youtuber Jeremy Andrew Davis findet ein unterhaltsames Gleichnis dafür, wie sich Masking anfühlt und wie es sich von üblicher sozialer Anpassung unterscheidet (auf englisch):
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