Reizfilterschwäche / offener Reizfilter
Neurodive Lexikon
Eine Reizfilterschwäche beschreibt die Schwierigkeit, Reize aus der Umwelt zu filtern und zu priorisieren. Statt automatisch Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und unwichtiges rauszufiltern – wie es die meisten neurotypischen Gehirne tun – dringt bei einer Reizfilterschwäche alles gleichzeitig durch: Geräusche, Gerüche, Licht, Bewegungen, Gedanken, Emotionen anderer Menschen. Das Gehirn versucht dann, alles zu verarbeiten – und läuft dabei schnell auf Anschlag.
Diese Besonderheit tritt häufig bei ADHS, Autismus und verwandten neurologischen Profilen auf, kann aber auch bei Menschen vorkommen, die sich als hochsensibel beschreiben. Hochsensibilität ist dabei keine offizielle Diagnose, sondern eine populärwissenschaftliche Bezeichnung für eine ausgeprägte Wahrnehmungsintensität – oft lässt sich aber auch hier ein weit offener Reizfilter als neurobiologische Ursache vermuten.
Reizfilterschwäche = weit offener Reizfilter? Begriffe und Wertungen
Statt Reizfilterschwäche kann man besser - wertfrei - von einem weit offenen Reizfilter sprechen.
Ich hoffe, dass solche wertfreien Bezeichnungen sich in Zukunft durchsetzen. Aktuell dringen jedoch die wertenden Begriffe - Reizfilterschwäche und Reizfilterstörung - gerade erst ins öffentliche Bewusstsein, und ich möchte die daraus entstehenden Fragen aus neurodivergenter Sicht einordnen.
Daher nutze ich hier - wie auch an anderen Stellen des Lexikons - noch immer die Begriffe Reizfilterschwäche und Reizfilterstörung. Denn jedes Vokabular ist besser als kein Vokabular. “Vielleicht ist das für dich so anstrengend wegen der Reizfilterschwäche” ist besser als “boah bist du überemfindlich” oder “jetzt reiß dich aber mal zusammen”.
Reizoffenheit oder offener Reizfilter ist dann der nächste Schritt…
Da du dies nun weißt, darfst du gern Vorreiter*in sein - und von Reizoffenheit und offenem Reizfilter sprechen 😉.
Was passiert bei einer Reizfilterschwäche?
Unser Gehirn ist ständig damit beschäftigt, Reize zu bewerten:
Ist das Geräusch wichtig? Muss ich auf das Licht reagieren? Ist das Gespräch neben mir relevant?
Ein normal funktionierender Reizfilter entscheidet blitzschnell, was in unser Bewusstsein dringt – und was im Hintergrund bleibt.
Bei einem sehr weit offenen Reizfilter bzw. einer Reizfilterschwäche funktioniert dieser Mechanismus nur eingeschränkt. Das Gehirn lässt mehr Informationen „durch“, als es verarbeiten kann. Es erkennt dann oft den Wald vor lauter Bäumen nicht, oder den Baum vor lauter Blättern.
Das Ergebnis:
- Überforderung, Reizüberflutung, emotionale Erschöpfung.
- Schwierigkeit, den Fokus zu halten.
- Hohe innere Anspannung in reizintensiven Umgebungen – bis hin zu Panikattacken oder Meltdowns.
Neurologischer Hintergrund
Neurobiologisch hängt die Reizfilterschwäche mit einer veränderten Aktivität in bestimmten Hirnregionen zusammen – insbesondere im Thalamus (der Schaltzentrale für Sinnesreize) und in Netzwerken, die für Aufmerksamkeitssteuerung zuständig sind.
Bei ADHS ist die Filterleistung oft instabil – Reize dringen entweder zu stark durch oder werden gar nicht registriert (was das sprunghafte Aufmerksamkeitsverhalten erklärt).
Auch Autist*innen berichten von einer konstanten Reizüberlastung. Neurowissenschaftliche Studien legen nahe, dass autistische Menschen Reize oft tiefer verarbeiten und länger über sie nachdenken. Was für andere „Hintergrundrauschen“ ist, bleibt für sie im Vordergrund. Das kann zu intensiven Wahrnehmungen, aber auch zu chronischer Erschöpfung führen.
Rein logisch kann eine weit offener Reizfilter die Ursache für andere neurodivergente Strategien und Verarbeitungsmuster sein - z.B. ist das sogenannte Bottom-Up-Processing die einzige Möglichkeit, sich ein Themenfeld zu erschließen, wenn man ein Hirn hat, das wenig filtert und priorisiert.
Ein Beispiel für Reizoffenheit im Alltag: Der Supermarkt
Stell dir vor, du gehst in den Supermarkt. Eigentlich willst du nur Brot und Milch kaufen.
Doch sobald du durch die Tür trittst, trifft dich eine Welle aus Reizen:
- Musik aus den Lautsprechern
- Durchsagen über Sonderangebote
- das grelle Licht im Kühlregal
- der Duft von Backwaren, Parfüm, Reinigungsmitteln
- Stimmengewirr, Einkaufswagen, Menschen, die sich bewegen, aneinander vorbeidrängen
- ein Kind weint, jemand lacht zu laut
- jemand rempelt dich an, entschuldigt sich nicht
Während dein Gehirn versucht, all das gleichzeitig zu verarbeiten, suchst du nach dem Brotregal – und findest es nicht, weil das Layout geändert wurde. Wie so oft übersieht dein Brain die neue große Überschrift “Brot” und starrt stattdessen auf die hunderten Einzelprodukte, Aufschriften und Preisschilder, die es alle als gleichwertig einstuft. Der Stresspegel steigt. Vielleicht spürst du, wie dein Herz schneller schlägt, deine Gedanken sich überschlagen, dein Körper in Alarmbereitschaft geht, der Kloß im Hals wächst und die Tränen kommen.
Irgendwann lässt du den Einkaufswagen einfach stehen, rennst raus, atmest panisch frische Luft, stürzt kopflos eine ruhige Nebenstraße, nur weg vom Stimmengewirr – und fühlst dich wie die unfähigste Lebensform der ganzen Galaxie.
Nicht, weil du „überempfindlich“ bist, sondern weil dein Nervensystem schlicht überflutet wurde.
Das ist ein Sensory Overload in Aktion - aufgrund eines offenen Filters, der jedes Detail durchlässt und im Dschungel vermutlich einen Überlebensvorteil bieten würde - aber nicht in der Stadt.


Reizoffenheit bei Erwachsenen - und Kindern
Die Symptome einer Reizüberflutung können sehr unterschiedlich aussehen – körperlich, emotional oder kognitiv.
Viele neurodivergente Menschen beschreiben sie als „Systemabsturz“, und die Grenzen zu einem Shutdown oder Meltdown als Folge sind fließend.
Häufige Symptome bei Erwachsenen:
- plötzlich auftretende Erschöpfung, Gereiztheit oder Panik
- Kopfschmerzen, Schwindel, Muskelverspannungen
- Schwierigkeiten, einfache Entscheidungen zu treffen
- Rückzug, Sprachlosigkeit oder „Einfrieren“
- Reizbarkeit oder Wutausbrüche
- Gefühl, „neben sich zu stehen“
Reizoffenheit bei Kindern:
- Weinen, Wutausbrüche, Meltdowns, Rückzug oder Shutdowns
- Starke Empfindlichkeit gegenüber Kleidung, Geräuschen, Gerüchen oder Berührungen
- Bestimmte Lebensmittel werden wegen ihrer Textur oder ihres Geruchs gemieden - manchmal kann sich die Ernährung dadurch einschränken auf bestimmtes , bekanntes “Safe Food”
- Konzentrationsprobleme in lauter Umgebung (z. B. Schule, Kita)
- scheinbar plötzliche Stimmungsschwankungen
Diese Reaktionen sind keine „Ungezogenheit“ oder mangelnde Belastbarkeit – sie sind körperliche Stressreaktionen auf eine neurologische Überlastung.
Reizfilterschwäche bei Autismus und ADHS
Autismus
Bei Autismus ist die Reizfilterschwäche eng mit der Wahrnehmungsverarbeitung verknüpft. Viele autistische Menschen berichten, dass sie Reize nicht einfach stärker fühlen, sondern anders strukturieren und nicht nur intensiver, sondern auch länger und komplexer verarbeiten. Manchmal scheint die Verarbeitung auch verzögert zu sein, weil im Moment selbst der “Kanal verstopft” ist (das sogenannte Delayed Processing).
Das erklärt viele autistische Verhaltensweisen:
- Stimming (z. B. rhythmische Bewegungen) hilft, Reize zu regulieren.
- Rückzug oder Kopfhörer sind Selbstschutz, keine Unhöflichkeit.
- Überforderung kann zu Shutdowns oder Meltdowns führen.
ADHS
Bei ADHS ist der Reizfilter ebenfalls oft extrem durchlässig. In der ADHS Diagnostik wird der sprunghafte Wechsel der Aufmerksamkeit dabei besonders beachtet:
- Das Gehirn scannt permanent nach Neuem, weil Reize keine Priorisierung erfahren.
- Hintergrundgeräusche oder Gedanken drängen sich in den Vordergrund.
- Das führt zu Ablenkbarkeit, Überforderung, und schließlich zu Erschöpfung oder Burnout.
Besonders herausfordernd: Viele ADHS-Betroffene erleben Phasen von Hyperfokus (völlige Reizabschirmung und Konzentration auf ein Ziel oder Thema) im Wechsel mit totaler Reizoffenheit – ein ständiges Pendeln zwischen Unter- und Überstimulation.
Hochsensibilität und Reizfilterstörung
Der Begriff Hochsensibilität beschreibt Menschen, die auf Sinnesreize, Emotionen oder Stimmungen besonders intensiv reagieren.
Obwohl es keine klinische Diagnose ist, lässt sich vieles durch denselben Mechanismus erklären: eine verminderte Reizfilterleistung.
- Bei ADHS und Autismus ist der offene Reizfilter Teil eines neurobiologischen Profils.
- Hochsensibilität ist noch nie eine “Störung” oder Diagnose gewesen, hier spricht man eher von einer Persönlichkeitsausprägung
- Aber in der Praxis ähneln sich viele Erfahrungen – insbesondere Reizüberflutung, soziale Erschöpfung und das Bedürfnis nach Rückzug. Ulrich Brennecke von der Plattform adxs.org setzt Sensibilität mit Reizoffenheit gleich.
- Viele spät diagnostizierte ADHSler oder Autist*innen haben sich vor ihrer Diagnose als hochsensibel eingestuft - oder wurden von anderen so genannt. Daher wäre eine erste niedrigschwellige Neurotyp-Erfassung durch Fragebögen gegebenenfalls sinnvoll bei Personen, die sich als hochsensibel, überempfindlich oder hypersensibel bezeichnen. Denn fehlende ADHS und Autismus Diagnosen führen derzeit noch viel zu oft zu anderen (Fehl)diagnosen, mangelnder Unterstützung und Komorbitäten.
Reizfilterschwäche behandeln – was hilft wirklich?
Eine Reizfilterschwäche ist keine Krankheit, die man „heilen“ muss, sondern ein Teil der neurobiologischen Diversität.
Ziel ist daher, die eigene Reizoffenheit besser zu verstehen und das Nervensystem zu regulieren – nicht sie zu unterdrücken.
Praktische Strategien
- Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Sonnenbrillen nutzen
- Reizarme Umgebung gestalten (z. B. weniger visuelles Chaos)
- Sensorische Pausen einplanen (Ruhezeiten ohne Input - oder mit regulierenden Aktivitäten)
- Routinen schaffen, um das Gehirn zu entlasten
- Achtsamkeit und Körperwahrnehmung trainieren
- Stimming und Bewegung zur Selbstregulation zulassen
- Regulation des Nevernsystems durch Spezialinteressen und kreative Ausdrucksformen (z.B. Zeichnen oder Schreiben)
- Medikamentöse Unterstützung prüfen (bei ADHS und AuDHS)
Bei ADHS kann eine medikamentöse Therapie helfen, den Reizfilter zu stabilisieren, da der präfrontale Kortex durch Dopamin- und Noradrenalinregulation wieder „online“ geht.
Therapeutische Unterstützung
Eine Reizfilterschwäche ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein neurologisches Symptom, das bei Personen mit Diagnosen wie ADHS und Autismus besonders oft auftritt.
Eine ärztliche Abklärung kann sinnvoll sein, wenn Reizüberflutung stark belastet.
Tests, die Hinweise liefern können:
- Sensory Profile (Erfassung sensorischer Empfindlichkeiten)
- ADHS- und Autismusdiagnostik (z. B. ADOS, AQ, RAADS-R)
- Highly Sensitive Person Scale (HSPS)
Therapeutisch geht es nicht um „Abhärtung“, sondern um Reizmanagement – also den bewussten Umgang mit den eigenen sensorischen Grenzen.
ADHS Medikamente können die Probleme verbessern, wenn eine Störung in der Regulation bestimmter Neurotransmitter (v.a. Dopamin und Noradrenalin) dafür verantwortlich ist, dass der präfrontale Kortex nur unzuverlässig “anspringt” und seine Arbeit erledigt. Denn dieses Hirnareal ist u.a. für das Sortieren und Filtern von Reizen zuständig.
Seit ADHS und Autismus gleichzeitig diagnostiziert werden dürfen, gibt es einen beträchtlichen Anteil an Autistinnen, die die Doppeldiagnose AuDHS erhalten - und berichten, dass ADHS-Medikamente ihre Reizregulation verbessern. Daher gilt es bei Autistinnen darauf zu achten, ob gleichzeitig - und vielleicht bisher undiagnostiziert - ADHS-typische Symptome bestehen und somit eine AuDHS vorliegen könnte.
Wie weiter mit offenem Reizfilter?
Eine Reizfilterschwäche ist keine Schwäche im eigentlichen Sinne – sie ist ein anderer Wahrnehmungsmodus, der allerdings in Umgebungen mit hoher Reizdichte zu ungewohnten Herausforderungen führt.
Das Gehirn nimmt sensorische Reize stärker wahr, spürt intensiver und filtert weniger.
Das kann zu Reizüberflutung, Stress und Erschöpfung führen, aber auch zu Kreativität, Empathie und Detailgenauigkeit, die in einer lauten Welt oft übersehen werden.
Wenn du dich in diesen Beschreibungen wiedererkennst, bist du nicht „zu empfindlich“ – dein Nervensystem funktioniert einfach anders.
Das gilt es zu verstehen - und zu beachten.
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Weiterführende Ressourcen
- In einem ausführlichen Essay schreibt Ulrich Brennecke von adxs.org über mögliche Ursachen der Reizfilterschwäche bei ADHS. Wenn du noch tiefer eintauchen möchtest, findest du dort eine Sammlung von Studien und Ressourcen zum Thema.
- Zur Abgrenzung von Hochsensibilität, ADHS und Reizfilterschwäche findet sich ebenfalls auf adxs.org die Anmerkung: “Hochsensibilität ist nicht identisch mit ADHS, wenn auch eine gewisse Nähe nicht zu übersehen ist. Wir kennen etliche (zum Teil äußerst) hochsensible Menschen, die zwar in vereinzelten Punkten sehr ähnliche Reaktionen wie ADHS-Betroffene haben, deren (Stress-)Regulationssysteme jedoch voll funktionsfähig sind, die also keine subjektive Überlastung aufweisen. Unserer Ansicht nach macht erst diese Überlastung aus der Reizfilterschwäche (Hochsensibilität) ADHS.
- Arnsten, A. F. T. (2009). The Emerging Neurobiology of ADHD: The Key Role of the Prefrontal Association Cortex. J. Pediatrics, 154(5), I–S43.
- Robertson, C. E., & Baron-Cohen, S. (2017). Sensory perception in autism. Nature Reviews Neuroscience, 18(11), 671–684.
- Brown, T. E. (2013). A New Understanding of ADHD in Children and Adults: Executive Function Impairments.
Genereller Disclaimer
Die Informationen in diesem Lexikon-Eintrag basieren auf meinen persönlichen Recherchen und Erfahrungen als neurodivergente Person. Ich bin eine "random person on the internet" und keine medizinische Fachkraft. Dieser Beitrag ersetzt keine professionelle medizinische, therapeutische oder psychologische Beratung.
Mein Ziel ist es, Wissen und Verständnis für neurodivergente Erfahrungen zu teilen - nicht, medizinische Ratschläge zu geben. Jede Person ist einzigartig, und was für mich oder andere funktioniert, muss nicht zwangsläufig für dich passen.
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